Es mutet reichlich merkwürdig an, wenn ein Konzernchef in einer Zeit, in der sich andere damit auseinandersetzen, ob Führung ohne Chef funktionieren könnte, plötzlich erklärt: Das Unternehmen – das bin ich! Absolutismus made by Siemens. Wie lange kann das gut gehen? Wir unterstützen mit ein paar Nachhilfelektionen aus der agilen Leadership-Perspektive digitaler CEOs.
Siemens will sich fit für die Zukunft machen. Das dazugehörige Umbauprogramm trägt den Titel „Vision 2020“. Was vielversprechend daher kommt, verliert bei näherer Betrachtung aber schnell den Zauber und macht baffem Erstaunen Platz. Der Konzern, das bin ich – so titelte das Handelsblatt unlängst. Und Wirklich! Joe Kaeser, Siemens-CEO, teilt die Attitüde von Sonnenkönig Louis 14, der es mit seinem „L’etat c’est moi“ zugegebenermaßen noch globaler hielt. Doch Kaeser kann sich angesichts seiner Position nun mal auch nur zum Mittelpunkt einer Firma machen…
Und das ging so: „Listigerweise hat er nach der Machtübernahme die Zuständigkeit für Investor Relations (IR) und Akquisition an sich gezogen; zuvor war hierfür der Finanzvorstand zuständig – vor August 2013 also er selbst. Und Machiavellist Kaeser, seit immerhin 36 Jahren im Haus, hat an entscheidenden Positionen Vertraute installiert“, ist im Handelsblatt nachzulesen, die „für die richtige Dramaturgie der Joe-Kaeser-Show“ sorgen. „Hier sollen, in Abstimmung mit dem Vorstand, die Leitlinien für das Unternehmen festgelegt und überwacht werden, um die innere Ordnung im Haus zu festigen. (…) Es gibt quasi nichts, was sich der erste Mann von Siemens nicht zutraut. Anfang Februar stellte er sich der staunenden Deutschland AG sogar – vorübergehend, falls nicht rechtzeitig ein Nachfolger gefunden wird – als Verantwortlicher für die Pressearbeit vor.“
Was steckt dahinter? Kaeser will auf diese Weise die Aktionäre an sich binden, ihnen demonstrieren: Ich lenke den Kahn, habe alles im Griff, alles liegt in meiner Hand. Ein Rückfall in Hochzeiten der Shareholder Kultur des letzten Jahrhunderts!Das Bonus Programm als Anreiz des Alles bin Ich Programms. Was der Siemens-Boss dabei aber übersieht ist, dass er ohne das Commitment seiner Arbeitnehmer nicht gewinnen kann. Stakeholder Kultur verdient ja keinen Bonus! Denn die Zeiten der CEO-Alleinherrschaft sind ein für alle Mal vorbei. Herr Kaeser, falls Sie diese Zeilen lesen – wir helfen gern mit ein paar Nachhilfelektionen auf die Sprünge. Ein bisschen weiter ausholen müssen wir dazu aber schon. Dann verstehen Sie es aber ganz sicher! Bevor wir anfangen, einigen wir uns aufs Du, okay? Ist einfach zeitgemäßer! Let’s go, Joe?
Nachhilfelektion Nummer eins: Transparenz und Qualität
Mussten Unternehmen früher mit knappen Informationen, beschränkten Vertriebsmöglichkeiten und geringer Reichweite kalkulieren, hat sich das radikal verändert. Nie war die Fülle verfügbarer Informationen größer, nie die Leistung von Rechnern stärker und kostengünstiger und nie waren die Menschen besser miteinander vernetzt. Was daraus folgt, ist ein gestiegener Anspruch an die Qualität.
Jetzt, da für die Kundschaft durch Internetforen und Bewertungsplattformen alles überprüfbarer wird, müssen Firmen einerseits mit top Produkten punkten. Und andererseits mit der Geschwindigkeit des Wettbewerbs mithalten. Denn kriegsentscheidend beim Kampf um Absatzmärkte ist, das beste Device in der kürzeren Zeit herzustellen.
Nachhilfelektion Nummer zwei: Manager müssen Neuland betreten
Lieber Joe, nun ist es aber so, dass den Firmen mit den etablierten Managementprozessen über kurz oder lang die Puste ausgeht. In einer Phase, in der Fehler teuer waren und es ebenso teuer war, Informationen zu teilen, konnte es nur einen eingeschränkten Kreis an Entscheidern geben. Alles musste abgesegnet werden, Führungskräfte hatten immer das letzte Wort. Das ist logisch. Aber inzwischen leben wir im 21. Jahrhundert, in dem Befehl und Kontrolle als oberste Managementprinzipien ausgedient haben.
Noch einmal: Heute ist eine Firma nur erfolgreich, wenn sie in der Lage ist, ununterbrochen und in immer besserer Qualität abzuliefern. Aber wie soll das gelingen, wenn alle Prozesse und alle Entscheidungen über einen Schreibtisch laufen? Nämlich Deinen, Joe. Damit programmierst Du doch Stagnation vor. Das kannst du doch alles gar nicht im erforderlichen Tempo durchdringen: Marketing, Vertrieb, Finance, Produkt. Entschuldige, Du magst es anders sehen, aber auch Du bist auch nur ein Mensch!
Nachhilfelektion Nummer drei: Am Beispiel lernen
Daher lautet das neue Management Credo: Vertrauen statt Kontrolle. Mehr Entscheidungsgewalt den Mitarbeitern. Führung wird demokratisiert in agilen Führungskulturen! Das ist es, was die Big Player im Silicon Valley so erfolgreich macht. Diese haben schon vor fast 20 Jahren die ollen Managementhüte dort hin verbannt, wo sie hingehören: In die Mottenkiste. Firmenchefs aller Couleur unternehmen regelrechte Pilgerreisen ins Sillicon Valley, um von Google, Apple und Co. zu lernen. Joe, du glaubst vielleicht, du hättest alles im Griff.
Fraglich ist nur, wie lange es dauert, bis Dir die vielen Zügel in Deinen Händen ins Fleisch schneiden – die Last, die daran zieht, ist einfach zu groß. Google und Co. haben diese längst in die Hände ihrer Expertenteams übertragen:
- Mitarbeiter haben Zugriff auf alle Daten.
- Sie werden angeleitet, mit diesem Wissen frei zu denken.
- Sie sind nicht in Rollen und Funktionen eingeengt, sondern bringen sich nach eigenem Gusto in Projekte ein.
- Jede Meinung zählt.
- Mitarbeiter werden eingeladen, in anderen Teams zu hospitieren.
Das erhöht den Austausch und das gegenseitige Verständnis. Unterm Strich schafft das eine Situation, in der Management und Team gemeinsam viel bewegen können. Wichtig bei all dem ist außerdem ein Umfeld, in dem sich die Mitarbeiter rundum wohl fühlen, um sie in Zeiten des Fachkräftemangels ans Unternehmen zu binden. Und exakt das ist der Job, den Du erfüllen musst, Joe: Mache das Unternehmen zu einem Ort, an dem sich die Belegschaft gerne aufhält. So wirst Du Deine Macht am ehesten sichern, aber nicht durch eine Wissensherrschaft – das war einmal. Und darum geht es dir doch, oder?
Nachhilfelektion Nummer vier: Mach’ die Firma zur Wohlfühloase
Respekt, Menschlichkeit, Nähe, Austausch und „ geistige Bewegungsfreiheit“ – darauf kommt es an. Keiner sollte dazu verdammt sein, von nine to five am Schreibtisch zu sitzen. Die besten Ideen entstehen ohnehin beim informellen Austausch. Am Tischkicker, beim gemeinsamen Kochen in der Firmenküche, beim gemeinsamen Teamfrühstück. Spaß an der gemeinsamen Sache – das ist der Produktivitätsfaktor Nummer eins.
Ist doch auch gar nicht so schwer zu verstehen, Joe. Was denkst du, wo Wissen und Ideen eher in Fluss kommen. In einem Umfeld, in dem man sein kann, wie man sein will und Spaß hat oder in einem Umfeld, in dem man sich gegeiselt fühlt? Du zögerst? Dann hilft Dir vielleicht diese Information bei der Entscheidungsfindung: Im Silicon Valley knobelt mancher auch am Wochenende an Problemstellungen herum. Freiwillig. Im Gegenzug nimmt er sich einfach an einem Nachmittag eine Auszeit mit den Kids. Stört keinen! Flexibilität ist Trumpf: Arbeite dann, wenn du eine kreative Schaffensphase hast und nicht nach Stechuhr. Jetzt dürfte die Antwort doch aber klar sein…
Nachhilfelektion Nummer fünf: Immer eine Armlänge voneinander entfernt
Auch die Bürogestaltung im Silicon Valley zahlt auf Austausch und Nähe ein: Es mag kurios klingen, aber selbst bei den Branchenriesen sitzen die Mitarbeiter in engen Büros, meist nur eine Armlänge voneinander entfernt. Ganz einfach, weil es dann bei einem Geistesblitz möglich ist, dem anderen auf die Schulter zu klopfen. Und ganz bewusst haben die Teams eine Größe von mindestens sieben Mann. Denn dann kann der Manager gar nicht erst so dezidiert in laufende Prozesse eingreifen und der Austausch findet im Team statt.
Und nun merkste selbst, das bei deiner Rechnung irgendwas nicht aufgeht, Joe: Wenn es bei sieben Teammitgliedern schon nicht möglich ist, alle Strippen zu ziehen. Wie soll das bei einem ganzen Konzern funktionieren? Ähnliches denken sich übrigens auch die Analysten, die aus den genannten Gründen schwarz für die Siemens Aktie sehen. Also: Konzernerneuerung ja, aber bitte vorwärts- und nicht rückwärtsgewandt.
PS: Es geht auch anders, wie Rene Obermann heute in der HHL Leipzig Leadership Lecture in einem Vortrag über seine Zeit als CEO beeindruckend reflektierte: Leaders eat their own dog food.
(Titelfoto: Art Student Johannes Köcher, „let it flow“, HGB Leipzig 2016)